Vom Aufhören und Anfangen

Vom Aufhören und Anfangen

4. Juli 2023

 

Liebe Leserinnen und Leser

 

Veränderungen gehören zum Fluss des Lebens. Nichts bleibt gleich, alles ist in einem ständigen Wandel. Ob wir wollen oder nicht. Das ist oft schön und aufregend, manchmal aber auch beunruhigend oder gar beängstigend. Was lasse ich zurück? Wie wird es danach sein?

Doch ich bin überzeugt: Wo eine Tür zugeht, geht eine andere auf. Durch Veränderungen lernen wir dazu und entwickeln uns persönlich weiter. Das eigene Leben zu gestalten, bedeutet Entscheidungen zu treffen, loszulassen und Neuanfänge mit Vertrauen und Dankbarkeit anzugehen. Oder wie es im Text von Regula Portillo heisst: Den Zauber des Aufhörens und Anfangens zu geniessen.

 

Ich wünsche Ihnen schöne Sommertage und hin und wieder Ruhe und Zeit, in sich hineinzuhorchen und der inneren Stimme Gehör zu schenken.

 

Herzlich,

Viviane Bader-Mäder

 


Vom Aufhören und Anfangen

Verabschieden heisst loslassen und weitergehen. Genau, was ich gewollt hatte – und trotzdem waren die letzten Wochen am alten Arbeitsplatz von Melancholie geprägt. Egal, wie sehr ich mich auf das Danach freute, die kleinen und grossen Abschiede von lieben Menschen, mit denen ich Büroalltag, Freuden, Sorgen, Kaffeetassen und in guten Momenten Sektgläser geteilt, aber auch von Arbeiten, die ich ausgeführt habe, ja selbst von meinem Arbeitsweg entlang der Aare oder von der Kaffeemaschine, mit der ich für gewöhnlich auf Kriegsfuss stand, bereiteten mir auf einmal Bauchschmerzen. Warum nur? Ich hatte doch selbst so entschieden.

Jeder Abschied ist ein kleiner Tod, lese ich, und rede mit einer Freundin darüber. Diese sagt: «Aufhören ist etwas Wunderbares.»

Ich horche auf: «Wie bitte? Anfangen ja. Aber aufhören?»

Ein Kapitel zu beenden, etwas vor langer Zeit Angefangenes mit klarem Kopf zu Ende zu bringen, eine Tür hinter sich zu schliessen, ohne genau zu wissen, welche Tür sich danach öffnen wird, empfinde sie als Moment des Glücks, führt sie aus.

Ihre Worte stimmen mich nachdenklich, und erinnern mich an Hermann Hesses Gedichtzeile «In jedem Anfang wohnt ein Zauber inne». Gilt das genauso für das Ende? Und wenn ja, welcher Zauber ist gemeint? Der, der Dankbarkeit?

Im Leben sollen wir «heiter Raum um Raum durchschreiten; zu Reise und Aufbruch bereit sein», schreibt Hermann Hesse in demselben Gedicht «Stufen». Ich stelle fest, dass ich die Zeile mit dem Zauber des Anfangs nur zur Hälfte kenne. Weiter heisst es nämlich: «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.»

Ein schönes Bild, ein beruhigender Gedanke, der mich an eine Todesanzeige erinnert, die ich neulich gelesen habe. Darin stand, der Mann sei im Alter von 96 Jahren unerwartet gestorben. Ich bin überzeugt, dass jemand, der im Alter von 96 Jahren «unerwartet» stirbt, ein hoffnungsvolles Leben gelebt haben muss. Ein Erfinderleben. Eins mit viel Zauber, Mut, Neugier, Enden und Neuanfängen. Vom Tod schreibt auch Hesse in seinem Gedicht: «Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde // Uns neuen Räumen entgegen senden // Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden // Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!»

 


Regula Portillo (* 1979) lebt und arbeitet in Bern. Für ihren zweiten Roman Andersland (2020) erhielt sie den Literaturpreis des Kantons Bern. www.regulaportillo.com