Was ist Mut?
Neulich vor einem Werbeplakat wollte mein Neffe von mir, seinen Eltern, Geschwistern und Cousins wissen, ob sich jemand trauen würde, Bungeejumping zu machen. Sein Vater schüttelte den Kopf: Höhenangst. Die Mutter: Unter Gruppendruck möglicherweise ja. Die Kinder: Klar, am liebsten sofort! Ich: Niemals. Bungeejumping erinnert mich an letzten Sommer, als ich in der Badi auf dem Fünfmeterturm stand und jeder Blick nach unten einem Schlag in die Magengrube gleichkam. Dabei war ich zuvor voller Tatendrang die Leiter hochgeklettert, um meinen beiden Jungs auf souveräne Art und Weise zu beweisen, dass eine Höhe von fünf Metern auch für mich locker zu schaffen wäre. Nachdem ich bereits viel zu lange gezögert und mich von vielen Kindern hatte überholen lassen, hatte mich ein fremder Junge angesprochen: «Wenn Sie zu viel nachdenken, springen Sie nicht.» Ich fasste mir ein Herz und sprang. Nüchtern stellte mein Neffe fest, Kinder hätten eben mehr Mut als Erwachsene und erzählte die Geschichte vom Aufsatzthema «Was ist Mut?», bei dem eine Schülerin offenbar die drei Worte «Das ist Mut» auf das Blatt geschrieben und dieses dann so abgegeben hatte. «Dafür hätte sie eine Sechs bekommen müssen», stimmten die Kinder überein, während sich die Grossen uneins waren.
Die Fragen, was Mut ist und wozu es ihn braucht, haben mich noch eine Weile begleitet. Ich habe nach Definitionen gesucht und bin dabei auf das althochdeutsche Wort «muot» gestossen, welches unter anderem «Kraft des Denkens, Empfindens und Wollens» bedeutet. Vielleicht schien mir diese Umschreibung deshalb stimmig, weil die wirklich mutigen Entscheidungen, die ich bisher in meinem Leben getroffen habe, keine waren, die sich mit Bungeejumping vergleichen lassen könnten. Es mag feige klingen, doch mutig war ich vor allem dann, wenn ich nicht gewusst habe, dass ich mutig war. Passend dazu schrieb der italienische Schriftsteller Alberto Moravia einst: «Der Unwissende hat Mut. Der Wissende hat Angst.» Ich glaube, Mut ist ein bisschen wie Glück – dass wir mutig oder glücklich waren, stellen wir oft erst im Nachhinein fest. Übrigens: Aus heutiger Sicht hätte ich letzten Sommer auf dem Fünfmeterturm auch umdrehen und die Leiter hinuntersteigen können. Denn nicht nur der Sprung ins kalte Wasser erfordert Mut – mutig ist auch, wer für seine persönlichen Grenzen einsteht.