Debbie, die Hausfliege

Debbie, die Hausfliege

29. November 2020

 

Liebe Leserinnen und Leser

 

Langsam neigt sich das Jahr dem Ende entgegen. 2020 wird in die Geschichte eingehen als Corona-Jahr; doch hoffentlich auch als ein Jahr der Solidarität und des Bewusstseins, dass wir auf viele Fragen nur gemeinsam Antworten finden und die wirklich grossen Probleme nur gemeinsam lösen können.

 

Für die meisten von uns war das Jahr 2020 auch persönlich eine Herausforderung: Sorgen um die Gesundheit, unsere Arbeitsplätze oder die Corona-Auswirkungen auf unsere Angehörigen sind präsent. Gleichzeitig können Krisen ja immer auch den einen oder anderen Stein ins Rollen bringen. Und vielleicht gelingt es sogar, positive Aspekte,

Erlebnisse und Erfahrungen von 2020 ins neue Jahr mitzunehmen? Wir wünschen es Ihnen von ganzem Herzen.

 

In schwierigen Zeiten hilft manchmal auch eine Prise Humor: Nach Daniel Düsentrieb im

ersten und Peter Bichsel im zweiten Newsletter, widmet sich Regula Portillo in ihrem dritten und letzten Beitrag dieses Jahres einer gewissen Debbie...


Herzlich

Ihre

Viviane Bader-Mäder, Diagonal-Coaching und

Christian Sidler, Diagonal-Mediation

 

 

Debbie, die Hausfliege

Oder warum es sich manchmal lohnt, aus der Not eine Tugend zu machen.

 

Bestimmt kennen Sie den oft zitierten Spruch des Theologen Reinhold Niebuhr «Gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.» Obwohl die Worte durch die Häufigkeit, mit der sie zitiert werden, ein bisschen abgedroschen klingen, sind es kluge Worte. Doch dazu eine andere Geschichte. Im Herbst hatten wir in unserer Wohnung «eine» Fliege. Lästig, wie Fliegen halt sind, hielt sie sich immer exakt dort auf, wo wir auch gerade waren: Beim Zmorge, Zmittag und Znacht schwirrte sie um unser Essen herum und schlimmer noch, beim Einschlafen um unsere Ohren. Wir versuchten, sie zu vertreiben, zu erschlagen – und selbst wenn uns das gelang, war sie am nächsten Morgen wieder da. «Sie will bei uns sein», sagte plötzlich einer unserer Söhne – und so kam sie zu uns: Debbie, unsere Hausfliege. Morgens fragten wir Debbie, ob sie uns nicht zur Arbeit oder in die Schule begleiten wolle und stellten uns vor, wie sie dort unsere Mitarbeitenden Sturm machen und wir entschuldigend sagen würden: «Keine Angst, sie will nur spielen!» Doch Debbie zog es vor, zuhause auf uns zu warten. Sobald wir da waren, war sie es auch. Wie schön! Auf einmal freuten wir uns tatsächlich, sie zu sehen. «Schau, Debbie ist auch schon da!», wurde zu unserem Running Gag – und während sich unsere Freunde ob unseres komischen Verhaltens wunderten, hatte sich unsere Einstellung zur Fliege längst geändert. Es war nicht mehr irgendeine Fliege, nein, es war Debbie, unsere Hausfliege. Schnell schraubte unser Sohn zum Beispiel nach dem Gebrauch das Honigglas wieder zu, um zu verhindern, dass es Debbie zur tödlichen Falle werden würde, wie er sagte. «Gestern sah Debbie irgendwie anders aus», stellte unser zweiter Sohn mehrfach fest und suchend blickten wir uns nach Debbie um, wenn sie mal nicht zum Abendessen erschienen war. Nun aus unserer «Hausfliege-Episode» ziehe ich zwei Schlüsse. Erstens hilft es, die Dinge bei einem Namen zu nennen; dieser nimmt ihnen oft den Schreck. Und zweitens tun wir wahrscheinlich hin und wieder gut daran, Situationen, die wir nicht ändern können, aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und in einen neuen Kontext zu setzen. Falls es Sie interessiert: Debbie ist inzwischen verschwunden – und ob Sie es glauben oder nicht, manchmal fehlt sie uns. Wir denken sogar darüber nach, uns im Frühling eine neue

Hausfliege anzuschaffen.

 

Regula Portillo (* 1979) wuchs im Kanton Solothurn auf, studierte Germanistik und

Kunstgeschichte an der Universität Fribourg. Zehn Jahre verbrachte sie in Nicaragua, Mexiko und Deutschland. Für ihren zweiten Roman Andersland, der 2020 erschienen ist, erhielt sie den Literaturpreis des Kantons Bern. Sie lebt in Bern und arbeitet als Texterin in einer Kommunikationsagentur.

www.regulaportillo.com