Systemrelevant im Homeoffice

Systemrelevant im Homeoffice

‍10. Juni 2020

 

Im Januar dieses Jahres, als wir unseren letzten Newsletter verschickt haben, ahnten wahrscheinlich die wenigsten, was auf uns zukommen würde. Bewegte und bewegende Monate liegen hinter uns. Persönlich, aber auch via unsere Kundinnen und Kunden wurden wir während der Corona-Krise mit vielen Fragen, Gedanken und Sorgen rund um die Bereiche Gesundheit und Arbeit konfrontiert. Diese lösen sich mit den sinkenden Fallzahlen nicht einfach auf. In schwierigen Zeiten Raum für Reflexion zu finden und zu versuchen, den Blick nach vorne zu richten, scheint uns auch in der aktuellen Situation besonders wichtig.


Fragen, die zum Nachdenken anregen, sind denn auch das Thema im Beitrag von Regula Portillo. In diesem Sinn wünschen wir Ihnen viel Lesevergnügen und immer wieder interessante Gedankenexperimente.
 

Herzlich

Ihre

Viviane Bader-Mäder, Diagonal-Coaching und

Christian Sidler, Diagonal-Mediation

 

(Quelle: tourdelorraine.ch)

Systemrelevant im Home-Office

Oder warum Peter Bichsel der Meinung ist, es sei dringend systemrelevant, Home-Office abzuschaffen.

 

Neulich in Bern entdeckte ich ein Plakat, das mir lange nicht aus dem Kopf ging. Darauf stand: «Was heisst eigentlich systemrelevant?». Eine gute Frage – und je länger ich darüber nachdachte, kam ich zum Schluss, dass die Bezeichnung systemrelevant, so wie sie aktuell im Zusammenhang mit verschiedenen Berufsgruppen verwendet wird, missverständlich, wenn nicht gar falsch ist. Denn sie impliziert automatisch, dass die anderen Berufe nichtsystemrelevant wären – laut geläufiger Corona-Definition gehörten dazu die allermeisten. Dabei ist jeder Beruf für das System relevant (sonst gäbe es ihn nicht) – auch jene Berufe, die nicht an vorderster Front für das Überleben der Bevölkerung verantwortlich sind. Und eigentlich meinen wir doch genau das, wenn wir beispielsweise von Angestellten im Spital oder im Detailhandel reden: An vorderster Front tätig sein – im Gegensatz etwa zur Arbeit im Home-Office (wo möglicherweise Pläne entworfen werden, wie Produkte möglichst schnell von A nach B gelangen).


Home-Office gehört ebenfalls zur Spitzengruppe der meistgebrauchten Corona-Worte. Prägende Zeiten verlangen nach prägenden Begriffen – doch während ich bei 
systemrelevant die Bezeichnung unglücklich finde (und mit einer gewissen Genugtuung festgestellt habe, dass systemrelevant 2013 zum Schweizer Unwort des Jahres erkoren worden ist), ist es bei Home-Office das Home-Office an sich, das mich seit geraumer Zeit unglücklich macht. Das empfindet wohl jede und jeder anders – ich für meinen Teil freue mich sehr, dass wir langsam aber sicher wieder an unsere Arbeitsplätze zurückkehren dürfen. Der Schriftsteller Peter Bichsel betrachtet es gar als systemrelevant, dass das Arbeiten im Home-Office schnellstmöglich ein Ende nimmt. «Es braucht eine Durchmischung der Gesellschaft und eine Öffentlichkeit, wo Menschen – auch generationenübergreifend und zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen – miteinander ins Gespräch kommen. Der Arbeitsplatz kann unter Umständen ein solcher Ort sein», sagt er mir am Telefon. «Aber zuhause funktioniert das nicht. Home-Office ist sozusagen der letzte Todesstoss für die Öffentlichkeit.»


Übrigens: Das anfangs erwähnte Plakat ist Teil einer Plakataktion des Kollektivs «Tour de Lorraine». Dazu gehören viele weitere Plakate mit Fragen wie: «Können wir auch anders?», «Welchen Wert hat welche Arbeit?» oder «Was brauchst du für ein gutes Leben?». Themen, über die es sich auch nach der Corona-Krise immer mal wieder nachzudenken lohnt.
 
 

(Quelle: tourdelorraine.ch)

Regula Portillo (* 1979) wuchs im Kanton Solothurn auf, studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Fribourg. Zehn Jahre verbrachte sie in Nicaragua, Mexiko und Deutschland. Im März 2020 ist ihr zweiter Roman Andersland erschienen. Sie lebt in Bern und arbeitet als Texterin in einer Kommunikationsagentur.

www.regulaportillo.com